private Arbeitsgemeinschaft "raunitz", Berlin

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B U C H B E S P R E C H U N G

Robert M. Zoske, Flamme sein!
Hans Scholl und die Weiße Rose.
Eine Biografie.

Flamme sein! Der Hamburger Theologe Robert M. Zoske hat in seiner neuen Hans-Scholl-Biografie
bedeutende Fortschritte gegenüber seiner Dissertation zum gleichen Thema erzielt.
In Capri 49 wurde sie ausführlicher gewürdigt. Da die vielen Bibelzitate wegfielen,
ist die neue Biografie schlanker und lesbarer. Andrerseits sind Teilaspekte vertieft und
mit neuen Forschungsergebnissen angereichert; die Episode mit dem schwulen Schweden
von 1936 ist an anderer Stelle in diesem Heft nachgedruckt. Andere Neuigkeiten gibt es
zu Hans Scholls letzter Geliebter Gisela Schertling (191 f.), die die NS-Justiz
wegen Mitwisserschaft und marginaler Unterstützung der Flugblattaktionen
der Scholl-Geschwister zu einem Jahr Gefängnis verurteilte, woraufhin sie
die Universität München relegierte (207). Kenntnis vom Inhalt der Flugblätter,
Mithilfe beim Verteilen und - vor allem - Unterlassung einer Anzeige bei der Gestapo
macht sie in den Augen Zoskes aber nicht zu einer "Aktivistin gegen den Unrechtsstaat".
Deshalb rügt er, dass die DDR Schertling als Verfolgte des Naziregimes anerkannte,
ihr als Rentnerin eine "Ehrenpension" zahlte und Erich Honecker ihr 1989
"für Verdienste um die Deutsche Demokratische Republik" eine Ehrenmedaille zum
40. Jahrestag der DDR-Gründung verlieh (349 f.) Über diese Beurteilung durch den Autor
wäre zu diskutieren.

Undiskutiert lässt Zoske die zweimal erwähnte merkwürdige Aussage Frau Schertlings
beim Gestapoverhör, Hans Scholl habe ihr vor der ersten Liebesnacht Morphium injiziert;
einmal heißt es, "er wolle nur die Wirkung beobachten" (192), ein andermal, er habe ihr
die Spritze gesetzt, "um sich ihr zu nähern" (206). Beide Erklärungen sind derart rätselhaft, dass es
unverständlich erscheint, wenn der Autor eine genauere Erörterung der Angelegenheit unterlässt.
Immer wieder wird erwähnt, wie gern und reichlich Hans Scholl Wein trank,
ob er aber seit Beginn seines Kriegsdienstes, nach der These des Scholl-Biografen
Sönke Zankel, auch andere Drogen konsumierte, bleibt unerörtert. Zankel war übrigens
der erste, der Hans Scholls Homosexualität erforschte (vgl. Capri 39, 2006, S. 42 f.).
Im Literaturverzeichnis Zoskes findet sich das Buch von 2006 nicht, in dem Zankel
seine Vermutung über den Drogenkonsum der Geschwister Scholl begründet. Er versuchte darin,
einen Sachverhalt verständlich zu machen, den Zoske zwar referiert, über dessen
Problematik er jedoch diskret hinwegsieht: die erstaunliche Tatsache, dass sich
die Geschwister nach ihrer Flugblattaktion im Universitätshauptgebäude am 18.2.1943
vom Hausmeister Schmid ohne Gegenwehr festhalten ließen, bis die Gestapo beide abführte.
Das Verhalten der Geschwister ist um so rätselhafter, wenn man an die verzweifelten
Flucht- und Gegenwehrversuche denkt, mit denen sich Alexander Schmorell,
der verlässlichste Mittäter der Scholls, seiner Verhaftung widersetzte (201 f.)
Zankels Hypothese vom Opiumkonsum der Geschwister wurde damals von der seriösen
bürgerlichen Presse (FAZ, SZ, FR) mit einer schrillen Heftigkeit zurückgewiesen, die irritiert.
Es gebe keine Beweise, nur Indizien, weshalb Zankels Vermutung die so genannte
Erinnerungskultur schwer beschädigt habe.

In der Frage nach einem Antisemitismus in Scholls Flugblättern gibt es zwischen
Zoske und Zankel indes weitgehende Übereinstimmung. Beide halten zwei Stellen darin
des Antijudaismus bzw. Antisemitismus mindestens für verdächtig. Zoske immerhin
vermeidet diese Etikettierung und behauptet nur, Scholls Ausführungen über den NS-Massenmord
an den Juden seien "missverständlich" (173). Wie stellt er sich ein solches Missverständnis vor?
Die Frage beantwortet er nur andeutungsweise mit dem Hinweis, Scholls Argumentation zur
"Stellung der Juden in der Gesellschaft" sei uneindeutig, denn sie komme "einem möglichen
antisemitischen Einwand entgegen", die Juden hätten den NS-Massenmord verdient (173).
Dieser Vorwurf, dem Antisemitismus entgegengekommen zu sein, wird auch nicht plausibler,
wenn zu seiner Stützung der vermeintliche Vergleich des deutschen mit dem jüdischen Volk
aus dem dritten Flugblatt herangezogen wird. Dort heißt es: "Wir würden es verdienen,
in alle Welt verstreut zu werden, wie der Staub vor dem Winde, wenn wir uns in dieser
zwölften Stunde nicht aufrafften und endlich den Mut aufbrächten, der uns seither
gefehlt hat." (297)

Zunächst werden "wir", also das deutsche zum Widerstand aufgerufene Volk, nicht mit
den Juden verglichen, sondern mit dem "Staub vor dem Winde". Das kann eigentlich nur
bedeuten, dass gerade nicht die Juden assoziiert werden, die nach christlicher Lehre
Gottesmörder waren und dafür vom Christengott mit ahasverischer Ruhelosigkeit gestraft wurden.
Die Deutschen aber werden nach Scholls Prophetie wie Staub vom Winde verweht, falls sie sich
nicht zum Widerstand gegen die Hitler-Diktatur aufraffen. Das Ergebnis von Zoskes
hermeneutischer Untersuchung, "die Israeliten seien an der Diaspora selbst schuld,
etwa weil sie Gottes Sohn getötet hatten" (174), findet keine Stütze im dritten Flugblatt.

Ähnlich problematisch ist Zoskes Interpretationskunst im Fall Thomas Manns, dessen
antinazistische Rundfunkreden "Deutsche Hörer!" über den englischen Sender BBC,
wie Zoske schlüssig nachweist, die Flugblattautoren inspirierten. Mann soll in
seiner Ansprache vom 27.9.1942 die NS-Unterscheidung von Deutschen als Wirts- und
Juden als Gast-Volk gebilligt haben. Es geht um folgende Stelle: "Anfangs gab es in
der Behandlung dieses Restes der Antike, der aber überall mit modernem National-Leben eng
verwachsen war, ja noch einen Schein von Maß und Vernunft. Die Juden, hieß es, sollten
gesondert von ihren Wirtsvölkern, ausgeschlossen von Ämtern und Einfluß, als geduldete Gäste
leben, aber ungestört ihrem eigenen Kultus, ihrer eigenen Kultur sich widmen können.
Das ist längst vorbei […] Jetzt ist man bei der Vernichtung, dem maniakalischen Entschluß
zur völligen Austilgung der europäischen Judenschaft angelangt."[1] Ein "Schein von
Maß und Vernunft" ist gerade nicht Maß und Vernunft, sondern das Gegenteil; und mit
dem Einschub "hieß es", der bedeutet, die Nazis haben die erste Stufe ihrer Judenverfolgung
selbst so begründet, hat Thomas Mann statt einer wie auch immer eingeschränkten Billigung
des Antisemitismus eine klare Distanzierung und Verurteilung vorgenommen.

Problematisch in dem Buch erscheint mir ferner die starke Tendenz des Autors, alles möglich,
Handelnde wie Handlungen, für seine christliche Religion zu vereinnahmen. Das mag auf
die Scholls in der Zeit ihrer Widerstandshandlungen - Antinazi-Flugblätter und -Graffiti -
zutreffen, wenn jedoch Robert, dem religionsfernen Vater der Geschwister, eine
"Form des ethischen Christentums" (16) bescheinigt wird, dann ist das von den
angeführten Fakten nicht gedeckt. Selbst Goethe, den die fromme Tochter Inge
in Sachen Gottesferne mit ihrem Papa vergleicht, soll trotz allem Spinozismus
"Christ nach seinem Sinn" gewesen sein (16). Beide, Goethe und der Vater, sind aus
den jeweiligen Staatskirchen, in die sie hineingeboren wurden, aus gesellschaftlicher
Rücksichtnahme nicht ausgetreten. Wenn aber Tochter Inge beklagt, der Papa sehe in
der Gottsuche der Tochter nur vorübergehende Schwärmerei und Spielerei eines Teenagers ?
warum soll sie mit dieser Kritik an dem Vater nicht richtig gelegen haben? Die milde
Liberalität des Vaters in religiösen Fragen war anscheinend von der Liebe zu seiner
Gattin (eine eifernde Christin, die ihre Kinder von Anfang an im Sinne ihrer Konfession
indoktrinierte) motiviert, und in der Darstellung der von heftigen Richtungswechseln
gekennzeichneten Suche Hans Scholls nach geistiger Orientierung wird der weltanschauliche
Konflikt der Eltern, der nie zum Ausbruch kam, immer latent blieb, eindrucksvoll reflektiert.
Der Sprung von mütterlich-christlicher Frömmigkeit zum neuheidnischen Nietzsche- und
Stefan George-Kult und wieder zurück könnte sich wenigstens teilweise aus den nie offen
ausgetragenen ideologischen Spannungen im Elternhaus erklären lassen.

Schließlich noch ein Wort zu Hans Scholls Gedichten, die, wie Zoske vermutet, Hinweise
"für die Beurteilung seiner spirituellen Entwicklung" geben. Anfangs, 1936 geht es in
seinen Versen um Lagerfeuerromantik à la Mundorgel, später schreibt er zunehmend religiös
gefärbte Naturlyrik, die, anders als die Briefe und Flugblatttexte, kaum etwas aus
seinem Inneren offenlegen und leider auch nur von einem sehr dürftigen Talent zum Dichten zeugen.

Hans Scholl war zweifellos einer der großen schwulen Märtyrer, die im Kampf gegen
den Hitler-Faschismus starben und Zoskes Scholl-Biografie wird diesem Thema gerecht;
sie ist lehrreich, gut lesbar und daher äußerst empfehlenswert. Scholls Lebenstragik sehe ich
in seiner grandiosen Überschätzung der Macht des Wortes. Scholls Hoffnung, mit einigen
tausend Flugblättern und ein paar antifaschistischen Slogans an Wänden Münchener Häuser
einen Volksaufstand zum Sturz des NS anzetteln zu können, ist an tragischer Hybris kaum
kaum zu überbieten.

(Robert M. Zoske: Flamme sein! Hans Scholl und die Weiße Rose. Eine Biografie.
München: C.H. Beck 2018. 368 Seiten. € 26,95.)

Manfred Herzer
(In: Capri 52, Zeitschrift für schwule Geschichte, Herausgeber: Schwules Museum Berlin,
Juli 2018, S. 68-71.)

[1] Thomas Mann: Gesammelte Werke in 12 Bänden, Frankfurt 1960, Band 11, S. 1051. ?
Hervorhebungen von mir, MH.




368 Seiten mit 44 Abbildungen.
Gebunden € 26,95
ISBN 978-3-406-70025-5

Ohne Hans Scholl hätte es die Weiße Rose
nicht gegeben. Aber wie kam der 23-Jährige dazu
sein Leben im Kampf gegen Hitler zu riskieren?
Robert Zoske zeichnet auf der Grundlage von
bisher unbekannten Dokumenten ein neues,
faszinierendes Bild von einem jungen Mann,
den der Heroismus der Hitlerjugend ebenso anzog
wie die Dichtung Stefan Georges und
eine naturmystische Frömmigkeit,
dessen größte Leidenschaft aber sein
Freiheitsdrang war.

Mit sämtlichen Gedichten von Hans Scholl und
dem Text aller Flugblätter der Weißen Rose.



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«Robert M. Zoske hat eine umfassende Biografie
Scholls geschrieben, die ein eindrückliches Bild
seiner Entwicklung zeichnet.»
Leander F. Badura, Der Freitag

«Was in dieser Biografie steht, hat noch kein Film
gezeigt.»
Bild am Sonntag

«Anregend und kenntnisreich.»
Cord Aschenbrenner, Süddeutsche Zeitung


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